Geboren um zu fliegen - eine Geschichte

 „Nun komm schon!“ sagte das Rotkehlchen freundlich. „Kannst du denn nicht ein bisschen schneller machen? Hier oben scheint herrlich die Sonne auf die Blätter.“ „Ja, ja“, schmatze die Raupe, während sie genüsslich ein Brennnesselblatt verspeiste. „Ich habe es gern warm. Und die Sonne scheint ab und zu in meinen Graben. Da brauche ich nicht so hoch hinaus. “Graben! Blätter!“ trillerte das Rotkehlchen. „Wenn du nur wüsstest! Sehnst du dich nie nach Sonnenschein den ganzen Tag, rauschenden Baumwipfeln, blauem Himmel, Vogelgesang, weißen Wolken und Wind?“ „Nein, eigentlich nicht, meine Liebe“, antwortete die Raupe. „Es mag ja alles sehr schön sein. Doch mir hat Grün schon immer besser gefallen. Ich bleibe lieber hier unten, da ist es sicherer.“ Das Rotkehlchen lachte: „Du kannst ja nichts dafür. Aber ich bin so froh, dass ich mit Flügeln geboren bin.“ Es schwang sich hinauf in den  Wipfel einer Esche und sang und sang und sang. Die Raupe hörte noch lange aus ihrem Graben dem Rotkehlchen zu, dessen Gesang durch die Blätter zu ihr herunter Klang. „Flügel“ murmelte sie, „Fliegen können, wie mag das wohl sein…“. Ihr Körper fühlte sich plötzlich so müde und schwer an und ihr Horizont kam ihr so beschränkt vor. „So ist es nun mal“, dachte sie „Ich glaube, ich werde alt und fange an zu spinnen. Flügel …. Flügel ….“: In diesem Augenblick bewegte sich etwas direkt über ihr, und sie sah hoch. Ein Schmetterling hatte sich auf einem Grashalm niedergelassen. Durch seine Flügel schien das Sonnenlicht hindurch. So etwas Herrliches hatte die Raupe noch nie gesehen. Sie kannte sich an der Schönheit ihres Besucher gar nicht satt sehen. „Woher kommst du?“ flüsterte die Raupe „Du gehörst doch gar nicht hier in den Graben!“ „Du auch nicht!“ antwortete der Schmetterling. „Du bist hier nur für eine Weile zu Besuch … Du bist für das Licht geschaffen, für Flügel, für den Himmel. Das möchte ich dir sagen!“ „Ach was redest du da“, wehrte die Raupe ab. Ich werde nie sein wie du, wie sollte das geschehen?“ „Was du einmal sein wirst, das ist jetzt noch nicht sichtbar“, flüsterte der Schmetterling. „Aber ich weiß, du wirst mir einmal ähnlich sein. Vergiss das nicht: Du bist nicht für den Graben geboren, das ist nur der erste Teil deiner Reise. Du bist zum Fliegen geschaffen worden…“ So flog der Schmetterling davon und die Raupe blieb untröstlich zurück und sehnte sich, danach fliegen zu können. Am Abend war sie ganz erschöpft und rollte sich in ihrem Graben zusammen. Sie schlief und schlief und schlief. Dabei spann sie einen Kokon um sich, der sich zu einer Puppe verhärtete, und der Regen und die fallenden Herbstblätter deckten sie zu. Eines Tages hatte die Raupe einen ganz außergewöhnlichen Traum. Sie wurde gerufen von weit weit her, aber mit eindringlicher Stimme. Auf einmal merkte sie, dass sie gar nicht träumte. Sie kämpfte sich frei mit einer Kraft, die sie nie besessen hatte. Sie zwängte sich aus ihrem Gefängnis ins Licht und in die Wärme. Und es geschah. Sie fühlte sich wie neu geboren. „ich bin anders!“ flüsterte sie, „der Ruf – ich steig ja nach oben. Ich fühle mich zu Hause. Was ist das?“ Sie machte Pause auf einer Hyazinthe und ein charmanter blauer Schmetterling gesellte sich zu ihr. „willkommen bei uns!“ strahlte er. „Wie ich sehe, sind deine Flügel kaum entfaltet.“ „Flügel?!“ Die Raupe fiel fast in Ohnmacht. Wer oder was war sie dann? Sie flatterte ganz ungeschickt zum Rand einer Vogeltränke. Ohne sich viel dabei zu denken, blickte sie in das Wasser und sah ihr eigenes Spiegelbild: Sie sah einen wunderschönen gelben Zitronenfalter. „Geboren um zu fliegen“, flüsterte sie, „geboren für das Licht!“ Sie breitete ganz ihre herrlichen Flügel aus und folgte ihrem neuen Freund zu dem blühenden Fliederstrauch, wo die übrigen Schmetterlinge schon auf sie warteten.

Nach der Geschichte "Geboren, um zu fliegen" von Patricia St. John